Die 13. Kammer des Verwaltungsgerichts Stuttgart hat aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 19. Juli 2017 der Klage der Deutschen Umwelthilfe e.V. gegen das Land Baden-Württemberg stattgegeben (Az.: 13 K 5412/15; vgl. Pressemitteilung vom 22.05.2017). Die Deutsche Umwelthilfe hat einen Anspruch auf Fortschreibung des Luftreinhalteplanes Stuttgart um Maßnahmen, die zu einer schnellstmöglichen Einhaltung der überschrittenen Immissionsgrenzwerte für NO2 in der Umweltzone Stuttgart führen.
Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache hat das Gericht die Berufung zum Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in Mannheim und die Sprungrevision zum Bundesverwaltungsgericht in Leipzig zugelassen. Diese können innerhalb eines Monats nach Zustellung der vollständigen Entscheidungsgründe, die noch nicht vorliegen, eingelegt bzw. beantragt werden.
Die wesentlichen Gründe der Entscheidung hat Richter am Verwaltungsgericht Wolfgang Kern in der heutigen Urteilsverkündung am 28. Juli 2017 wie folgt dargelegt:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Kläger hat einen Anspruch auf Fortschreibung des Luftreinhalteplanes Stuttgart um Maßnahmen, die zu einer schnellstmöglichen Einhaltung der seit mindestens 2010 überschrittenen Immissionsgrenzwerte für Stickstoffdioxid in der Umweltzone Stuttgart führen.
Dies folgt aus § 47 Abs. 1 Sätze 1 und 3 BImSchG, wonach die für die Aufstellung von Luftreinhalteplänen zuständige Planbehörde (hier: Regierungspräsidium Stuttgart) einen Luftreinhalteplan aufzustellen oder fortzuschreiben hat, wenn die nach europa- und bundesrechtlichen Vorschriften einzuhaltenden Immissionsgrenzwerte für Luftschadstoffe nicht eingehalten werden.
1. Das ist hier der Fall, weil in der Umweltzone Stuttgart die Immissionsgrenzwerte für Stickstoffdioxid seit 2010 bis zum heutigen Tage nicht eingehalten werden.
2. Dieser Verpflichtung, den Luftreinhaltungsplan Stuttgart um die zur Einhaltung dieser Immissionsgrenzwerte erforderlichen Maßnahmen zu ergänzen, ist die Planbehörde mit dem vorgelegten Planentwurf der „3. Fortschreibung des Luftreinhaltungsplanes zur Minderung der Feinstaub- und Stickstoffdioxid-Belastungen“ nicht im gebotenen Umfang nachgekommen.
Von den in M1, M2a, M2b und M2c geregelten Verkehrsverboten kann keines als ausreichende und geeignete Luftreinhalteplanmaßnahme zur schnellstmöglichen Einhaltung der überschrittenen Immissionsgrenzwerte eingestuft werden.
Für das Verkehrsverbot M1 folgt dies daraus, dass dieses frühestens zum 01.01.2020 umgesetzt werden soll und deshalb bereits wegen dieses späten Umsetzungszeitpunktes zu einer schnellstmöglichen Einhaltung der überschrittenen Immissionsgrenzwerte nichts beitragen kann.
Für die Verkehrsverbote M2a, M2b und M2c gilt dies deshalb, weil die Umsetzung dieser Verkehrsverbote ausnahmslos an weitere Bedingungen geknüpft ist, deren Eintritt bereits zum heutigen Zeitpunkt ausgeschlossen werden kann (M2a und M2b), ungewiss ist (M2c) oder dieses Verkehrsverbot aber jedenfalls von seinem Wirkungsgrad offensichtlich ungeeignet ist, die Überschreitung der Immissionsgrenzwerte nennenswert zu reduzieren (M2c).
Auch die Regelungen M3 bis M20 enthalten keine geeigneten Luftreinhalteplanmaßnahmen im Sinne des § 47 Abs. 1 Sätze 1 und 3 BImSchG, weil diese - selbst wenn man sie im weitesten Sinne als Luftreinhalteplanmaßnahmen einstufen könnte und sie auch tatsächlich alle (zeitnah) umgesetzt würden - die vorliegende Überschreitung der Stickstoffdioxid-Immissionsgrenzwerte zusammen um höchstens 15 % reduzieren könnten.
3. Nach den Feststellungen im Gesamtwirkungsgutachten des Beklagten handelt es sich bei dem in Maßnahme M1 beschriebenen, in der Umweltzone Stuttgart ganzjährig geltenden Verkehrsverbot für alle Kraftfahrzeuge mit benzin- oder gasbetriebenen Ottomotoren unterhalb der Schadstoffklasse Euro 3 sowie für alle Kraftfahrzeuge mit Dieselmotoren unterhalb der Schadstoffklasse Euro 6/VI um die effektivste und derzeit einzige Luftreinhalteplanmaßnahme zur Einhaltung der überschrittenen Immissionsgrenzwerte und zugleich auch zur schnellstmöglichen Einhaltung, wenn dieses bereits zum 01.01.2018 in Kraft gesetzt wird.
4. Alle anderen von der Planungsbehörde in Betracht gezogenen Maßnahmen (Geschwindigkeitsbeschränkungen, Verkehrsverbote nach Kfz-Kennzeichen, City-Maut, Nahverkehrsabgabe und sog. „Nachrüstlösung“) sind von ihrem Wirkungsgrad nicht gleichwertig.
Dies gilt insbesondere auch für die von der Landesregierung und der zuständigen Planbehörde zuletzt als vorzugswürdig erachtete sog. „Nachrüstlösung“, weil diese - selbst bei einer angenommenen freiwilligen Umrüstquote von 100 % bis 2020 und einer ausnahmslos angenommenen Reduzierung der realen Emissionen im Straßenverkehr durch die Nachrüstung um mindestens 50 % - nach der eigenen Einschätzung der Gutachter des Beklagten bis 2020 lediglich zu einer Reduzierung der überschrittenen Stickstoffdioxid-Immissionsgrenzwerte um maximal 9 % führen kann.
5. Die Einführung des vom Beklagten mit der Maßnahme M1 beabsichtigten Verkehrsverbotes begegnet auch im Hinblick auf die gesetzlichen Vorgaben des § 47 Abs. 4 Satz 1 BImSchG keinen rechtlichen Bedenken.
Das Verkehrsverbot verstößt insbesondere unter keinem denkbaren Gesichtspunkt gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, weil - wovon auch die Planbehörde ausgeht und was zwischen den Beteiligten deshalb unstreitig ist - der Schutz der Rechtsgüter Leben und Gesundheit der von den Immissionen betroffenen Wohnbevölkerung in der Umweltzone Stuttgart höher zu gewichten ist, als die dagegen abzuwägenden Rechtsgüter (Eigentum und allgemeine Handlungsfreiheit) der von dem Verkehrsverbot betroffenen Kraftfahrzeugeigentümer.
Eine Unverhältnismäßigkeit des Verkehrsverbotes lässt sich auch nicht aus dem zur schnellstmöglichen Einhaltung der überschrittenen Stickstoffdioxid-Immissionsgrenzwerte notwendigen Umsetzungszeitpunkt 01.01.2018 herleiten.
Insbesondere besteht keine rechtliche Notwendigkeit, das Verkehrsverbot so lange zu verschieben, bis die Zahl der davon betroffenen Verkehrsteilnehmer nur noch 20 % des Flottenbestandes Stuttgart betrifft. Hierbei handelt es sich um eine von der Planbehörde willkürlich vorgenommene Begrenzung des vom Verkehrsverbot betroffenen Adressatenkreises, für die es keine sachliche Rechtfertigung gibt.
Eine solche Rechtfertigung lässt sich insbesondere nicht aus den von der Beklagten zuletzt noch vorgetragenen „unzulässigen Ausweichverkehren“ herleiten, zu denen es angeblich kommen soll, wenn die Zahl der vom Verkehrsverbot betroffenen Verkehrsteilnehmer über 20 % liegt. Denn diese wurden bislang nicht hinreichend belegt. Doch selbst wenn es durch eine Einführung des Verkehrsverbotes bereits zum 01.01.2018 zu solchen unzulässigen Ausweichverkehren kommen sollte, berechtigt dies die Planbehörde nicht dazu, die Festlegung des Verkehrsverbotes zu unterlassen oder dessen Umsetzungszeitpunkt zu verschieben. In diesem Falle wäre die Planbehörde vielmehr verpflichtet, diese unzulässigen Ausweichverkehre durch geeignete weitere Planmaßnahmen ebenfalls zu unterbinden.
Die Planbehörde ist auch nicht befugt, das zur Einhaltung der überschrittenen Immissionsgrenzwerte sofort (01.01.2018) erforderliche Verkehrsverbot wegen der von ihr zuletzt bevorzugten sog. „Nachrüstlösung“ auf einen erheblich späteren Zeitpunkt (hier 01.01.2020) zu verschieben.
Dem stehen bereits rechtliche Gründe entgegen, weil die „Nachrüstlösung“ - wovon die Planbehörde auch selbst ausgeht - nicht als verbindliche Maßnahme in den Luftreinhalteplan aufgenommen werden kann. Die „Nachrüstlösung“ stellt deshalb bereits keine rechtlich gleichwertige Handlungsalternative dar, für die sich die Planbehörde im Rahmen ihres planerischen Entscheidungsspielraums nach § 47 Abs. 4 Satz 1 BImSchG anstelle des Verkehrsverbotes entscheiden könnte.
Soweit die Planbehörde dieser „Nachrüstlösung“ trotzdem den Vorzug geben will, würde sie damit zudem einen Handlungsspielraum zu Lasten des zur Einhaltung der überschrittenen Immissionsgrenzwerte sofort gebotenen Verkehrsverbots in Anspruch nehmen, der ihr gemäß § 47 Abs. 1 BImSchG ebenfalls nicht zusteht, wenn die Stickstoffdioxid-Immissionsgrenzwerte bereits seit so langer Zeit wie in der Umweltzone Stuttgart überschritten sind.
Darüber hinaus kann die Planbehörde der „Nachrüstlösung“ auch aus tatsächlichen Gründen nicht den Vorzug vor dem sofort gebotenen Verkehrsverbot einräumen, weil diese „Nachrüstlösung“ selbst bei einem maximal erfolgreichen Verlauf lediglich ein Immissionsminderungspotenzial von ca. 9 % besitzt. Dies bedeutet, dass die „Nachrüstlösung“ selbst dann nicht zur Einhaltung der zulässigen Stickstoffdioxid-Immissionsgrenzwerte in der Umweltzone Stuttgart führen könnte, wenn bis zum Jahr 2020 ausnahmslos alle nachrüstbaren Diesel-Kraftfahrzeuge auch tatsächlich nachgerüstet und hierdurch bei jedem nachgerüsteten Kraftfahrzeug die schädlichen Abgasemissionen halbiert würden.
Bei dieser Sachlage würde die Planbehörde mit einem Festhalten an der „Nachrüstlösung“ und gleichzeitiger Verschiebung des sofort gebotenen Verkehrsverbotes bis zum 01.01.2020 den bereits seit über 7,5 Jahre andauernden rechtswidrigen Zustand der erheblichen Überschreitung der Stickstoffdioxid-Immissionsgrenzwerte in der Umweltzone Stuttgart um mindestens weitere 2,5 Jahre verlängern, anstatt diesen rechtswidrigen Zustand so schnell wie möglich zu beenden. Mit einem Festhalten an der „Nachrüstlösung“ würde die Planbehörde also in ganz erheblichem Maße gegen ihre gesetzliche Verpflichtung zur schnellstmöglichen Minimierung der gesundheitsschädlichen Luftverunreinigungen und - da der Planbehörde der völlig unzureichende Wirkungsgrad der „Nachrüstlösung“ bekannt ist - auch in voller Kenntnis dieser unstreitigen Sachlage gegen ihre Handlungspflichten aus § 47 Abs. 1 BImSchG verstoßen.
6. Das Verkehrsverbot ist mit dem Instrumentarium der Straßenverkehrsordnung (StVO) durchsetzbar. Zwar ist das bislang allein existierende Zusatzzeichen für die Freistellung vom Verkehrsverbot in einer bestehenden Umweltzone mit seinem derzeit maximal möglichen Regelungsinhalt (Grüne Plakette frei) nicht ausreichend, um das vorliegend umzusetzende Verkehrsverbot bekannt zu machen. Auch ist die für Fälle der vorliegenden Art deshalb dringend gebotene Ergänzung der einschlägigen Verordnungen durch den Bundesverordnungsgeber bislang nicht erfolgt und derzeit auch nicht absehbar.
In Anbetracht der Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland zur Einhaltung der unionsrechtlich vorgegebenen Umweltschutzstandards und des aus Art. 2 Abs. 2 GG resultierenden Schutzauftrags für das Leben und die Gesundheit von Menschen kann dieses vom Bundesverordnungsgeber ohne sachlichen Grund bislang nicht behobene Regelungsdefizit jedoch nicht dazu führen, dass das vorliegend zum Schutz der menschlichen Gesundheit gebotene Verkehrsverbot unterbleibt.
Da die Aufzählung der Zusatzzeichen in der StVO zudem nicht abschließend ist, ist der Beklagte deshalb rechtlich befugt und verpflichtet, das im vorliegenden Fall notwendige Zusatzzeichen selbst zu gestalten. Auch in Bezug auf den hier notwendigen Textumfang, mit dem eine Freistellung vom Verkehrsverbot für Dieselfahrzeuge Euro 6 und sonstige Kraftfahrzeuge (Kraftfahrzeuge mit Ottomotoren) ab Euro 3 geregelt werden müsste, bestehen keine rechtlichen Bedenken.