Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat mit Beschlüssen vom 06.04.2021 die Anträge zweier Examenskandidatinnen gegen das Land Baden-Württemberg abgelehnt, mit welchen die Antragstellerinnen begehrten, ihre am 04.03.2021 im Rahmen des Frühjahrstermins bereits geschriebene Strafrechtsklausur zu bewerten und in die Gesamtbewertung der Ersten juristischen Staatsprüfung einzubeziehen sowie den Termin für die Wiederholungsklausur am 19.04.2021 vorläufig aufzuheben.
Die Kammer hat ausgeführt, der Antrag auf Bewertung der bereits am 04.03.2021 geschriebenen Strafrechtsklausur und Einbeziehung dieser in die Gesamtbewertung der Ersten juristischen Prüfung sei bereits unzulässig, da er auf eine Vorwegnahme der Hauptsache gerichtet sei. Es sei nicht ersichtlich, weshalb es für die Antragstellerinnen unzumutbar wäre, eine Entscheidung über die – noch nicht erhobene – Klage abzuwarten.
Soweit die Antragstellerinnen die vorläufige Aufhebung des Wiederholungstermins für die Strafrechtsklausur am 19.04.2021 begehren, machten die Antragstellerinnen keinen Anordnungsanspruch glaubhaft.
Nach § 25 Abs. 1 Satz 1 JAPrO könne das Landesjustizprüfungsamt Beeinträchtigungen des Prüfungsablaufs oder sonstige Verfahrensfehler von Amts wegen oder auf Antrag eines Prüflings durch geeignete Maßnahmen oder Anordnungen heilen. Es könne insbesondere anordnen, dass Prüfungsleistungen von einzelnen oder von allen Prüflingen zu wiederholen seien, oder bei Verletzung der Chancengleichheit eine Schreibverlängerung oder eine andere angemessene Ausgleichsmaßnahme verfügen. Ein derartiger erheblicher Verfahrensmangel, der zur Wiederholung der Prüfungsleistung von allen Prüflingen führen müsse, liege jedenfalls dann vor, wenn die Prüfungsaufgaben einer nicht feststellbaren Vielzahl von Prüflingen vor dem Prüfungstag bekannt geworden seien.
Von einem derartigen erheblichen Verfahrensmangel sei nach Ansicht der Kammer nach dem von Seiten des Antragsgegners übersandten Verwaltungsvorgang mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auszugehen. Es lägen hinreichend konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass Teile des Prüfungsgegenstands für die am 04.03.2021 durchgeführte Strafrechtsklausur bereits vor dem Prüfungstag einer unbestimmten Anzahl von Prüflingen unterschiedlichster Universitäten des Landes bekannt geworden seien. Damit sei ein ordnungsgemäßes Prüfungsverfahren für die bereits geschriebene Strafrechtsklausur nicht mehr gesichert gewesen. Vor diesem Hintergrund sei zur Wahrung der durch Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG gewährleisteten Chancengleichheit der Prüflinge die Entscheidung des Antragsgegners, die Strafrechtsklausur insgesamt wiederholen zu lassen, nicht ermessensfehlerhaft.
So sei aufgrund der Stellungnahme der für die Universität Konstanz zuständigen Aufsichtspersonen und der Amtsinspektorin Frau F. vom 12.03.2021 mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass am 01.03.2021, als eigentlich die öffentlich-rechtliche Klausur geschrieben werden sollte, jedenfalls ein Examenskandidat in Konstanz den Sachverhalt umgedreht und gemerkt habe, dass es sich um die Strafrechtsklausur gehandelt habe, welche eigentlich erst am 04.03.2021 geschrieben werden sollte. In dieser Stellungnahme werde ausgeführt, ein Kandidat habe mit einer Aufsichtsperson namens Frau W., die direkt hinter ihm gesessen habe, wenige Sekunden nach Beginn der Bearbeitungszeit Blickkontakt aufgenommen, woraufhin Frau W. zu ihm gegangen sei und gesehen habe, dass bei ihm noch zwei Klausurtexte auf dem Tisch lagen. Der Examenskandidat habe Frau W. einen Klausurtext gegeben und ihr sinngemäß mitgeteilt, dass dies der falsche Klausurtext sei und er auf der Toilette gewesen sei. Angesichts des anonymen Hinweises einer „ehemaligen baden-württembergischen Examenskandidatin“ vom 10.03.2021 an das Landesjustizprüfungsamt sei zudem ebenfalls mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es sich unter den Examenskandidaten in Baden-Württemberg verbreitet haben musste, dass es bei der dann am 04.03.2021 gestellten Strafrechtsklausur um Urkundendelikte gehen werde. Denn diese ehemalige Examenskandidatin habe dem Landesjustizprüfungsamt mitgeteilt, dass in Konstanz anstelle der öffentlich-rechtlichen Klausur die Strafrechtsklausur ausgeteilt worden sei, so dass alle Examenskandidaten im betreffenden Raum bereits Zeit gehabt hätten, den Sachverhalt zur Kenntnis zu nehmen und zu erkennen, dass es um Urkundendelikte gehen würde. Nachdem dieses Versehen der Aufsicht von einem Examenskandidaten aufgedeckt worden sei, habe die Aufsicht den Vorfall offenbar nicht gemeldet, so dass keine Ersatzklausur, sondern die bereits ausgeteilte Klausur gestellt worden sei.
Die Kammer hat weiter ausgeführt, dass es keinerlei Anhaltspunkte dafür gebe, an der – sie selbst belastenden – Stellungnahme der Aufsichtspersonen und Frau F. zu zweifeln, insbesondere da diese sowohl mit dem anonymen Hinweis als auch den vier Gedächtnisprotokollen von drei im Prüfungsraum in Konstanz anwesenden Prüflingen und einem Mannheimer Prüfling übereinstimmten. Fest stehe, dass sowohl nach der Stellungnahme der Aufsicht als auch nach den Gedächtnisprotokollen kurz vor Beginn der Bearbeitungszeit um 8:30 Uhr bemerkt worden sei, dass die falschen Sachverhalte ausgeteilt worden seien. Die Angaben würden von wenigen Minuten vor Bearbeitungszeit beziehungsweise 5 oder 2 Minuten vor Bearbeitungszeit sprechen. Selbst unter Zugrundelegung des spätmöglichsten Zeitpunktes von 8:27 Uhr und dem tatsächlichen Beginn der „richtigen“ Klausur, die nach dem vorgelegten Protokoll um 08:40 Uhr begonnen habe, sei ein Sachverhalt der Strafrechtsklausur für die Dauer von 13 Minuten unauffindbar gewesen. Nach Ansicht der Kammer sei nicht ausschlaggebend, wo sich der fehlende Sachverhalt innerhalb dieser 13 Minuten bis zu seinem Auffinden befunden habe, denn aufgrund der Stellungnahme der Aufsicht und dem anonymen Hinweis ist die Kammer davon ausgegangen, dass zumindest der Kandidat, welcher Frau W. informiert habe, den Sachverhalt der Strafrechtsklausur jedenfalls für wenige Sekunden nach dem Beginn der Bearbeitungszeit für die öffentlich-rechtliche Klausur zur Kenntnis genommen haben musste, da er sonst nicht darauf hätte aufmerksam machen können, dass dies der falsche Sachverhalt gewesen sei. Da aufgrund des anonymen Hinweises aus Hessen ebenfalls überwiegend wahrscheinlich sei, dass sich die Kenntnis über Teile des Gegenstands der Prüfung noch vor dem 04.03.2021 sogar über die Landesgrenze hinweg verbreitet habe, sei weiterhin mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Prüfungsgegenstand der Strafrechtsklausur bei einer nicht mehr feststellbaren Vielzahl von Prüflingen bekannt geworden sei.
Die Anordnung der Wiederholungsklausur durch den Antragsgegner lasse nach Ansicht der Kammer keine Ermessensfehler erkennen. Ferner erweise sich die Anordnung der Wiederholungsklausur auch als verhältnismäßig und angemessen.
Gegen die Beschlüsse ist die Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in Mannheim gegeben, die innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe einzulegen ist.