Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 22. Oktober 2015 (siehe Pressemitteilung vom 15.10.2015) mit Urteil vom 22. Oktober 2015 festgestellt, dass die von Beamten der Bundespolizei am 19.11.2013 im ICE 377 zwischen Baden-Baden und Offenburg bei dem Kläger, einem in Kabul geborenen deutschen Staatsangehörigen mit dunkler Hautfarbe, durchgeführte Identitätsfeststellung und der anschließend erfolgte Datenabgleich rechtswidrig gewesen sind (Az.: 1 K 5060/13).
Die 1. Kammer des Verwaltungsgerichts hat entschieden, dass die Bundespolizei grundsätzlich nicht berechtigt ist, im Grenzgebiet zu einem anderen SchengenStaat (hier: Frankreich) verdachtsunabhängige Personenkontrollen zur Verhinderung oder Unterbindung der unerlaubten Einreise in das Bundesgebiet vorzunehmen. Der Vorrang des Unionsrechts steht der Anwendung der im Bundespolizeigesetz für derartige Kontrollen enthaltenen Ermächtigungsgrundlage (§ 23 Abs. 1 Nr. 3 des Bundespolizeigesetzes - BPolG) entgegen. Nach dem in allen Staaten des Schengen-Raums unmittelbar anwendbaren Schengener Grenzkodex, einer am 13. Oktober 2006 in Kraft getretenen Verordnung der EU, dürfen an den Binnengrenzen keine Personenkontrollen durchgeführt werden. Ebenfalls unzulässig sind Maßnahmen, die die gleiche Wirkung wie Grenzkontrollen haben. Polizeiliche Personenkontrollen auf der Grundlage des nationalen Rechts sind demgegenüber zulässig, wenn sie (1.) keine Grenzkontrollen zum Ziel haben, (2.) auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beruhen und insbesondere auf die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität abzielen, (3.) in einer Weise konzipiert sind und durchgeführt werden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheidet, und (4.) auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt werden.
Der Gerichtshof der Europäischen Union hat bereits 2010 zur vergleichbaren Rechtslage in Frankreich entschieden, dass eine nationale Regelung, die den Polizeibehörden eine Befugnis zur Durchführung von verdachtsunabhängigen Identitätskontrollen im Grenzgebiet zu anderen Schengenstaaten einräumt, den erforderlichen Rahmen für die diesen Behörden eingeräumte Befugnis vorgeben muss, um insbesondere das Ermessen zu lenken, über das sie bei der tatsächlichen Handhabung der Befugnis verfügen. Dieser Rahmen muss gewährleisten, dass die tatsächliche Ausübung der Befugnis zur Durchführung von Identitätskontrollen nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben kann (EuGH, Urteil vom 22.06.2010 - Rs. C-188/10 und C-189/10 [Melki und Abdeli]). Diesen auch vom deutschen Gesetzgeber zu beachtenden Anforderungen genügt die vorliegend herangezogene Ermächtigungsgrundlage im Bundespolizeigesetz nicht. Es fehlt an verbindlichen Regelungen hinsichtlich Intensität und Häufigkeit der Kontrollen.
§ 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG könnte danach als Ermächtigungsgrundlage für verdachtsunabhängige Personenkontrollen nur dann herangezogen werden, wenn die Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage der Art. 23 ff. des Schengener Grenzkodex vorübergehend wieder Grenzkontrollen an der betreffenden Binnengrenze einführt. Dies war zum Zeitpunkt der hier zu beurteilenden Personenkontrolle im November 2013 nicht der Fall.
Die Frage, ob möglicherweise die Hautfarbe des Klägers bei der Entscheidung, gerade ihn und nicht andere Mitreisende in dem betreffenden Waggon zu kontrollieren, eine Rolle gespielt hat, und wie dies rechtlich zu bewerten wäre, hat das Gericht offen gelassen.
Das Gericht hat gegen das Urteil die Berufung zum Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in Mannheim zugelassen. Die Berufung kann von den Beteiligten innerhalb eines Monats nach Zustellung der vollständigen Urteilsgründe, die noch nicht vorliegen, eingelegt werden.