Die 5. Kammer des Verwaltungsgerichts Stuttgart hat mit Beschluss vom 22.05.2020 einen Eilantrag des Landesverbands Baden-Württemberg der AfD gegen das von der Landeshauptstadt Stuttgart verfügte Versammlungsverbot auf dem Schillerplatz in Stuttgart-Mitte am 24.05.2020 abgelehnt (Az.: 5 K 2478/20). Das Gericht sieht auf der ihm zur Verfügung stehenden Tatsachengrundlage die Voraussetzungen des sogenannten unechten polizeilichen Notstandes als voraussichtlich erfüllt an, was ausnahmsweise mangels Abwendungsmöglichkeit durch Auflagen und vor dem Hintergrund der SARS-CoV-2-Pandemie, ein Vorgehen gegen die - voraussichtlich selbst friedliche - Versammlung als Nichtstörerin rechtfertigt.
Die Antragstellerin hatte eingewandt, sie sei Nichtstörer. Dass es in der Vergangenheit zu pauschal behauptete Provokationen gekommen sei, werde bestritten. Die Verbotsverfügung sei auch nicht verhältnismäßig. Ein überregionaler polizeilicher Notstand bestehe nicht und die Versammlung müsse zunächst unter Auflagen gestellt werden. Soweit die Verbotsverfügung auf die Corona-Verordnung gestützt werde, sei diese Rechtsgrundlage formell und materiell verfassungswidrig.
Diese Einschätzungen teilt die Kammer nicht. Sie hat in ihrer Entscheidung ausgeführt, dass die Durchführung der Versammlung höchstwahrscheinlich zu erheblichen Gefahren für die Schutzgüter von Leib und Leben führen würde. Diese Gefahren seien darin begründet, dass mit großer Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen sei, dass sich eine erhebliche Anzahl linker Gegendemonstranten in der Stuttgarter Innenstadt einfinden würde, die versuchen würde, die Versammlung der Antragstellerin zu stören. Hierbei würde es, wie sich aus den von der LHS Stuttgart vorgelegten Erkenntnissen über Versammlungen in den vergangenen Jahren ergebe, höchstwahrscheinlich zumindest zu Zusammenstößen zwischen Polizeibeamten und Gegendemonstranten kommen. Dies werde dadurch unterstrichen, dass mittlerweile für Sonntag, 12:30 Uhr auf dem Stuttgarter Marktplatz eine linke Gegendemonstration angemeldet worden sei.
Die Versammlung der Antragstellerin könne zwar nach den vorliegenden Erkenntnissen als Störerin wohl nicht in Anspruch genommen werden, da nicht absehbar erscheine, dass die Versammlung einen unfriedlichen Verlauf nehmen würde. Auch dürften die Voraussetzungen polizeilichen Notstands nicht vorliegen, die ein Vorgehen gegen die Versammlung als Nichtstörerin rechtfertigen würden. Das Gericht sehe aber auf der ihm zur Verfügung stehenden Tatsachengrundlage die Voraussetzungen des sogenannten unechten polizeilichen Notstandes als voraussichtlich erfüllt an, was ausnahmsweise ein Vorgehen gegen die Versammlung rechtfertige, da den Gefahren mit Auflagen nicht begegnet werden könne. Die Kammer gehe dabei, wie zuvor ausgeführt, davon aus, dass mit einer größeren Zahl von Gegendemonstranten (einige Hundert) in Stuttgart-Mitte zu rechnen wäre. Sie schätze die Situation ferner so ein, dass auf Seiten der Gegendemonstranten ein erhebliches Gewaltpotential bestünde und es nicht bei verbalen Angriffen oder Störungen aus einiger Entfernung verbleiben würde, sondern körperliche Auseinandersetzungen mit Polizeibeamten in größerer Zahl zu erwarten seien. Auseinandersetzungen solcher Art würden zu einem erheblichen Infektionsrisiko aller daran beteiligten Personen führen, sowohl der Polizeibeamten als auch der Gegendemonstranten. Sie würden über die Gefährdung dieser Personen hinaus auch den Maßnahmen, die gegen die Ausbreitung des neuartigen Corona-Virus getroffen worden seien, entgegenstehen. Bei den insoweit in Bezug genommenen und zu schützenden Rechtsgütern des Lebens und der Gesundheit handele es sich um zentrale Rechtsgüter. Das Gericht halte in dieser besonderen Situation im Rahmen der Abwägung nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für vertretbar, dass das durch Art. 8 Abs. 1 des Grundgesetzes gewährte Versammlungsrecht ausnahmsweise zurücktreten müsse. Das Gericht werde dabei maßgeblich geleitet zum einen von den mutmaßlichen Folgen, die eine Ausweitung der SARS-CoV-2-Pandemie durch die Erhöhung der Zahl infizierter Personen in Deutschland mit sich brächte, zum anderen von der Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit der an der Versammlung beteiligten Personen sowie der Polizeibeamten, die zum Schutz der Versammlung aufzubieten wären.
Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in Mannheim gegeben, die innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe der Entscheidung einzulegen ist.